Der polnisch-amerikanischen Historikerin und Publizistin Anne Applebaum wurde am 20. Oktober vor rund 700 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Unter den Gästen waren unter anderem auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger sowie die beiden Parteivorsitzenden Saskia Esken und Omid Nouripour. Die Laudatio hielt Irina Scherbakowa, russische Germanistin, Historikerin und Menschenrechtlerin.
In ihrer Dankesrede beschreibt Appelbaum zunächst die russische Annexion der Krim 2014 sowie den Überfall auf die Ukraine 2022 und sagt über Angriffe dieser Art: „Ziel ist die Durchsetzung autoritärer Willkürherrschaft: ein Staat ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Grundrechte, ohne Rechenschaftspflicht, ohne Gewaltenteilung.“
Gleichzeitig habe der Überfall auf die Ukraine den Weg geebnet „für eine schärfere Politik in Russland selbst. In den Jahren nach der Annexion der Krim wurde die Opposition stärker unterdrückt und unabhängige Einrichtungen wurden vollständig verboten. (…) Die Verbindung von Autokratie und imperialen Eroberungskriegen hat Methode.“
Sie berichtet vom Kampf der Protestierenden in Russland und fragt: „Aber was ist mit uns? (…) Was ist mit den übrigen Europäern – was sollen wir tun? Unsere Stimmen werden nicht unterdrückt. Wir werden nicht verhaftet und vergiftet, wenn wir unsere Meinung kundtun. Wie sollen wir auf die Wiederkehr einer Regierungsform reagieren, von der wir glaubten, dass sie von diesem Kontinent verschwunden war?“
Zu Beginn des Krieges haben sich Hilfe und Unterstützung rasch in Taten verwandelt. Aber heute „stehen wir vor der größten Herausforderung für unsere Werte und Interessen zu unseren Lebzeiten, und die demokratische Welt schwankt. Viele wünschen sich, der Krieg möge auf magische Weise enden.“
Doch „wer ‚Pazifismus‘ fordert und nicht nur Gebiete an Russland abtreten will, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, der hat rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt.“ Es sei „die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte: Nicht, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürfen, sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen.“
Appelbaum schließt mit dem Appell: „Lassen Sie nicht zu, dass Skepsis zu Nihilismus wird. Der Rest der demokratischen Welt braucht Sie.“ Wir müssten „heute für unsere gemeinsame Überzeugung einstehen, dass die Zukunft besser sein kann, dass wir diesen Krieg gewinnen können, und dass wir die Diktatur einmal mehr überwinden können; unsere gemeinsame Überzeugung, dass Freiheit möglich ist, und dass wahrer Frieden möglich ist, auf diesem Kontinent und überall auf der Welt.“
Irina Scherbakowa sieht Anne Applebaums „Rolle als Historikerin und öffentliche Intellektuelle darin, sicherzustellen, dass die feine Linie, die die Wahrheit von der Lüge in der Vergangenheit und in der Gegenwart trennt, bestehen bleibt“ und ergänzt, dass sie uns wie nur wenige gewarnt habe, „dass das, was als eine narrative Linie beginnt, in eine echte Frontlinie münden kann.“ An Applebaums Büchern sei „nicht nur ihre Zugänglichkeit und ihr aufklärerisches Pathos, sondern auch ihre politische Relevanz“ besonders wertvoll. In vielerlei Hinsicht habe sie in ihren Büchern die drohenden Katastrophen diagnostiziert und vorhergesagt. Gleichzeitig sei es sehr wichtig, „dass ihre Bücher voller Empathie für die Opfer sind. (…) Sie hat ihre Stimmen hörbar gemacht.“
Für Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, ist Applebaum eine Person, die mit bestechender Klarheit Position zur aktuellen Politik beziehe und die uns helfe, die Welt zu verstehen, wie sie ist: Mit ihren beiden jüngsten Büchern über die Entstehung eines weltumfassenden autokratischen Netzwerkes gebe Applebaum uns zwei wertvolle Ratgeber an die Hand. Zum 75. Mal wurde der Friedenspreis heute vergeben. An diese lange Tradition erinnernd schließt Schmidt-Friderichs mit den Worten: „Frieden ist kein Geschenk. Frieden ist die größte Aufgabe unserer Zeit.“
Der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef stellt die Frage: „Bedeutet Frieden, dass keine Kampfhandlungen stattfinden? Oder gehört mehr dazu, um den Frieden zu erringen und zu bewahren?“ Und mahnt im Anschluss: „Wer die Pflichten der Demokratie aufgibt, wird die von ihr gegebenen Rechte verlieren. Es ist unser aller Pflicht, die Demokratie zu verteidigen, weil sie Menschenrechte, Meinungsfreiheit und ein friedlicheres Zusammenleben ermöglicht.“
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger:innen waren unter anderem Sebastião Salgado, Albert Schweitzer, Astrid Lindgren, Václav Havel, Jürgen Habermas, Susan Sontag, Navid Kermani, Margaret Atwood, Aleida und Jan Assmann, Serhij Zhadan und im vergangenen Jahr Salman Rushdie. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.
Presseaussendung Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Red.